Der Engel des Mitgefühls
Ich werde oft gefragt, was mich veranlasst hat, Engel zu malen. Meistens versuche ich, mich um die Antwort herumzuwinden. Warum, weiß ich gar nicht genau. Vielleicht ist es mir unangenehm zuzugeben, dass ich Engel oft in schwierigen Momenten male. Sie sollen doch Mutmacher sein und Freude bringen. Sie sind so farbenfroh und bunt, dass eigentlich nichts darauf hinweist, dass ich sie auch in Situationen male, wo mir die Worte fehlen und eigentlich schwarz angesagt wäre.
Meine ersten Engel also habe ich gemalt, als der Sohn eines Bekannten von einem Zug überrollt wurde und starb. Es war ein tragisches Unglück, er war zu spät dran und wollte auf den abfahrenden Zug aufspringen.
Damals malte ich meine ersten Engelbilder und hatte dabei das Gefühl, als ob irgendwer hinter mir steht und mich tröstet. Denn obwohl ich den jungen Mann selbst nicht kannte, fühlte ich doch mit seiner Familie mit und war ziemlich niedergeschlagen. Damit fing meine Engelmalerei an und sie hält an bis zum heutigen Tag.
Heute habe ich wieder einen Engel gemalt. Wieder einmal habe ich keine Worte für ein unfassbares Geschehen. Wieder ist ein junger Mensch zu Tode gekommen, ein Kind, von einem offenbar kranken und gestörten Menschen vor den Zug gestoßen. Sinnlos ermordet, nur weil da jemand mit seinen Problemen nicht klar kam. Eine Familie wurde zerstört, eine Mutter wird sich bis zum letzten Tag ihres Lebens fragen, ob sie es irgendwie hätte verhindern können. Unermessliches Leid, das sich niemand vorstellen kann.
Wenn mich jetzt jemand fragen würde: „Wo war denn da sein Schutzengel?“ Ich könnte keine Antwort geben. Und vermutlich gibt es auch keine Antworten darauf.
Und trotzdem oder gerade deswegen habe ich heute wieder einen Engel gemalt. Und ich wünsche dem kleinen Jungen, dessen Leben so sinnlos und abrupt im Gleisbett endete, dass zumindest in diesem Moment ein Engel da war, der ihn fest in seine Arme geschlossen hat.